26.10.2020
Haus der Ewigkeit
Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum
Am 1. Oktober 2020 startete Thüringen in ein Themenjahr zu 900 Jahren jüdischen Lebens. Der Landtag hat aus diesem Anlass die Ausstellung „Haus der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum 2004 - 2020.“ gezeigt.
Die Fotodokumentation von Marcel-Th. und Klaus Jacobs umfasst Arbeiten von 2004 bis 2020. Eigens für Erfurt als Ausstellungsort wurde sie um einige jüdische Friedhöfe in Thüringen und Sachsen erweitert. Jüdische Friedhöfe sind ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Alltagskultur. In ihnen spiegelt sich die große Vielfalt der einstigen jüdischen Bevölkerung hinsichtlich sozialen Status und des Berufstandes wieder: Industrielle, Bankiers und Kaufleute, Handwerker, Landwirte, Politiker, Rechtsanwälte, Rabbiner, Talmudgelehrte, Philosophen, Wissenschaftler, Mediziner, Künstler und Sportler – hinter jedem Grabstein steht die Biografie eines verstorbenen Menschen.
Quelle Foto: Marcel-Th.Jacobs
Grußwort von Marcel-Th. Jacobs
Sehr geehrte Frau Landtagpräsidentin Keller,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Hoff,
sehr geehrte Landtagsabgeordnete,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
„Shalom“!
Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich aufgrund der Corona-Pandemie zumindest virtuell zur Eröffnung unserer Ausstellung „Haus der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum 2004-2020.“ eingefunden haben. Im Namen und als Vorsitzender unseres Freundeskreises zum Erhalt der jüdischen Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum e.V. möchte ich Sie herzlich willkommen heißen.
Es ist uns eine besondere Ehre in diesem hohen Haus unsere Fotografien erstmals in Thüringen präsentieren zu dürfen. Dies ist nun die vierte Station unserer Ausstellung – sie war zunächst in Dresden im dortigen Kraszewski-Museum zu sehen und ging dann weiter in die jeweiligen jüdischen Museen in Rendsburg (Schleswig-Holstein) bzw. ins fränkische Creglingen. Nun also sind die Bilder hier in Erfurt eingetroffen, eingebettet in den Rahmen der Feierlichkeiten zu „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“.
Erlauben Sie mir zur Eröffnung ein paar einleitende Worte zu Ihnen zu sprechen.
Nach letzten Zählungen aus dem Jahr 2016 gibt es in Deutschland heute rund 2.000 jüdische Friedhöfe, jedoch nur auf etwa 110 werden heute Bestattungen vorgenommen. In Polen existieren heute dagegen nur ca. 1.200 jüdische Friedhöfe, zahlreiche davon allerdings noch in einem äußerst schlechten Zustand. In der Ukraine wurden in den Jahren 1995 bis 2000 knapp 730 jüdische Friedhöfe wissenschaftlich erfasst und in der Tschechischen Republik 320. Nachdem in vielen Regionen Mitteleuropas die jüdischen Gemeinden in der Schoah ausgelöscht wurden, sind Friedhöfe oftmals die einzigen verbliebenen Zeugen dafür, dass an den jeweiligen Orten jüdische Menschen gelebt und den Alltag mitgeprägt haben. An den Friedhöfen, insbesondere an den Grabsteinen lässt sich die soziokulturelle Vielfalt der jüdischen Gemeinden ablesen. Mit der Arbeit an unserer Fotodokumentation haben wir vor mehr als 16 Jahren begonnen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen, der Ukraine und in der Tschechischen Republik haben wir uns auf Spurensuche begeben, um einen kleinen Beitrag zur Aufarbeitung jüdischer Lokalgeschichte zu leisten. Auf unseren Reisen kamen wir mit verschiedenen Menschen in Kontakt, die bereitwillig Auskunft gaben: Vertreter von jüdischen Gemeinden, Rabbiner, Zeitzeugen, Stadtchronisten, Kommunal- und Stadtverwaltungen, Vereine und Trägerkreise von jüdischen Museen, Politiker, Friedhofsverwalter, Bestatter, Restauratoren, Friedhofsgärtner und nicht zuletzt Angehörige bzw. Nachkommen von Verstorbenen. Ihnen sei an dieser Stelle für ihre Unterstützung auf das Herzlichste gedankt.
Wir haben bekannte und auch weniger bekannte jüdische Friedhöfe besucht, wie Sie hier auch in der Ausstellung sehen können.
Den Alten Jüdischen Friedhof im Prager Stadtteile Josefov mag der eine oder andere von Ihnen vielleicht sogar schon einmal besucht haben – aber was ist mit all den vielen kleinen, ganz normalen jüdischen Friedhöfen in Dörfern und Kleinstädten landauf, landab in Deutschland und anderen Ländern? Mancherorts war ihre Existenz schon in Vergessenheit geraten oder wollte man sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vielleicht auch nicht immer an sie erinnern?
Allzu oft gestaltete sich unsere Recherche jedenfalls schwierig, weil es nicht immer Hinweise auf die Existenz von jüdischen Friedhöfen gibt. Hilfreich waren in diesem Zusammenhang Datenbanken u.a. von alemania-judaica, jüdische-gemeinden, stetl oder yadvashem – um nur einige zu nennen. Besonders kompliziert war es zum Beispiel, die jüdischen Friedhöfe im heutigen polnischen Szprotawa (ehem. Lebus) oder Boleszkowice (ehem. Westpommern) zu finden, von deren Existenz wir zwar mittels der erwähnten Datenbanken wussten, aber letztendlich nur Ortskundige uns den genauen Weg dorthin zeigen konnten. Hier befanden sich dann auch nur noch einige im Wald liegende Grabsteinfragmente. In den dortigen Stadtverwaltungen gab es keine Informationen wie z.B. Belegungs- oder Sterbelisten der dort Bestatteten. Vermutlich wurden diese durch die Nationalsozialisten und durch Einwirkung des Zweiten Weltkriegs vernichtet. Eine weitere Herausforderung bei unserer Recherche war das Auffinden von einzelnen Grabstellen. Durch Wildwuchs, Verwitterung aber auch teilweise durch Vandalismus sind viele Grabsteine nicht mehr klar erkenn- und lesbar. Nicht nur in Polen, sondern auch in der Ukraine fanden wir jüdische Friedhöfe vor, die teilweise völlig zweckentfremdet wurden. Einige von ihnen werden heute als Schuttabladeplätze oder für die Landwirtschaft genutzt, auf anderen wird Fußball gespielt. Antisemitische Schmierereien sind ebenso zu finden wie mutwillig zerstörte Grabsteine und Sockel von entwendeten Grabsteinen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass dort vielerorts die jüdischen Friedhöfe nicht durch Mauern und einen Wachdienst abgesichert sind. Inzwischen ist jedoch zu bemerken, dass sich sowohl in Polen als auch in der Ukraine in den letzten Jahren zunehmend ein neues Bewusstsein für den Erhalt der jüdischen Friedhöfe entwickelt hat und sich zahlreiche bürgerschaftliche Initiativen vor Ort aktiv engagieren, diese zu erhalten.
In Deutschland und in der Tschechischen Republik sind mittlerweile viele jüdische Friedhöfe wieder in einen guten Zustand versetzt worden. Dank zahlreicher Initiativen von jüdischen Gemeinden, Nachkommen, Stiftungen, Politikern, Freiwilligendienste wie z.B. der Bundeswehr und der Aktion Sühnezeichen - um nur die Wichtigsten zu nennen - konnten zahlreiche jüdische Friedhöfe in den letzten Jahrzehnten umfassend restauriert, wissenschaftlich dokumentiert und erhalten werden.
In unserer Ausstellung, in der Sie nur eine sehr kleine Auswahl von inzwischen 64 dokumentierten jüdischen Friedhöfen sehen, bekommen Sie nicht nur einen Eindruck der unterschiedlichen Grabsteinformen, sondern auch von jüdischen Grabsymbolen und Inschriften in Deutsch, Polnisch, Tschechisch, Hebräisch und Kyrillisch. Gut erkennbar ist dabei der Wandel der Grabgestaltung im Laufe des 18. bzw. 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dieser orientierte sich an der allgemeinen Kunst ihrer Zeit oder des geographischen Raumes. So lassen sich sämtliche Kunststile von Romanik und Gotik über Renaissance, Barock und Neoklassizismus bis hin zu modernen Einflüssen von Jugendstil und Art Déco auch auf jüdischen Grabsteinen wiederfinden.
Ein Booklet, das hier in unserer Ausstellung ausliegt, informiert Sie anhand von kurzen Steckbriefen über die örtlichen Gegebenheiten und gibt Ihnen hierzu kurze Hintergrundinformationen über die einzelnen jüdischen Friedhöfe.
Wir möchten mit unserem Projekt und unseren Vereinsaktivitäten ein deutliches Zeichen gegen jede Form von Antisemitismus setzen. Dabei verwahren wir uns vor Schlussstrichdebatten, antisemitischen Äußerungen und Aufrufen, die zur Spaltung unserer Gesellschaft führen. Unser Projekt zeigt deutlich, wie sehr jüdisches Alltagsleben Teil unserer Kultur und Geschichte in Deutschland, aber auch darüber hinaus im gesamten mitteleuropäischen Kulturraum war, und es ist erfreulich, dass dies auch jetzt 75 Jahre nach Kriegsende an immer mehr Orten wieder so ist. Besonders freuen wir uns in diesem Zusammenhang auf das kommende Jahr, in dem an „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erinnert wird. Ein umfassendes Bildungs- und Kulturprogramm wird dann die Vielfältigkeit des jüdischen Lebens über Jahrhunderte einer breiten Öffentlichkeit vorstellen.
In den nächsten Jahren möchten wir die fotografische Dokumentation über jüdische Friedhöfe in allen vier Ländern fortsetzen. Eines der Ziele unseres Kulturvereins ist diese Erinnerungskultur für die nachfolgenden Generationen sicht- und erlebbar zu machen. Geplant sind neben Ausstellungen in der Alten Synagoge Hagenow (Mecklenburg-Vorpommern) und im Roten Rathaus Berlin auch die Erweiterung unserer Onlineplattform sowie die Fertigstellung einer für jedermann zugänglichen Dokumentation. Aktuelle Informationen dazu finden Sie auf unserer Website unter: www.jüdische-friedhöfe.de.
Sehr gerne unterstützen wir mit unserer Ausstellung hier im Landtag das Themenjahr „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“. Wir freuen uns, wenn Sie sich heute auch angeregt fühlen, jüdische Friedhöfe nicht nur in Thüringen, sondern auch über den Freistaat hinaus zu besuchen.
Zum Schluss lassen Sie mich besondere Dankesworte an Martin Kranz, dem Leiter der ACHAVA Festspiele Thüringen richten. Ohne sein Engagement wäre der Kontakt mit dem Thüringer Landtag nicht zustande gekommen und wir würden heute hier nicht ausstellen. Weiteren Dank möchte ich neben meinen Vorrednern auch an Silvia Erlekampf sowie Andrea Kaiser und Ihrem gesamten Team vom Thüringer Landtag für die sehr gute Zusammenarbeit aussprechen. Der Thüringer Landtag hat zudem die Gestaltung und den Druck des hier ausliegenden Booklets übernommen – auch dafür großen Dank! Und nicht zu vergessen möchte ich an dieser Stelle einen Dank an alle Förderer*innen und Spender*innen sowie die Mitglieder unseres Kulturvereins Freundeskreis zum Erhalt der jüdischen Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum e.V. richten, die heute hier mittels virtueller Medien unsere Ausstellungseröffnung verfolgen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und an Sie alle in diesen schwierigen Pandemiezeiten den jüdischen Wunsch gerichtet:
„Blaybt gezunt“
Ihr Marcel-Th. Jacobs
Ausstellung "Haus der Ewigkeit" Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum
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Ausstellung "Haus der Ewigkeit" Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum
08.12.2020 2:15 Minuten
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Booklet zur Ausstellung "Haus der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum 2004 – 2020"
PDF 8,16 MB - ist nicht barrierefrei
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Zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona-Virus ist der Zugang zum Thüringer Landtag derzeit beschränkt. Ein Besuch der Ausstellung ist daher nicht möglich. Wir bitten um Ihr Verständnis!